Satkhira und Khulna

Liebes Zuhause,

Ich habe euch lange warten lassen aber…tatarataaaaa…da bin ich wieder.
Ich hatte euch ja erzählt, dass meine Reise in Kushtia gestartet ist. Aber hab ich euch auch erzählt wie kalt es da war? Unglaublich kalt. Da war nichts mit Tshirt und Sonnenschein. Der bengalische Frühling hat auf sich warten lassen und wir wurden mit wunderbaren 8 Grad begrüßt. Darauf war ich nicht vorbereitet und hatte auch keine entsprechenden Klamotten dabei. Das ich meinen rosa Hoodie liebe wusste ich schon immer aber meine Liebe zu ihm ist nun ins unermässliche gewachsen!
Die Temperaturen kenne ich ja von Zuhause, an sich also nicht das dicke Problem. Wenn es aber keine Heizung gibt, kein warmes Wasser und für Nachts nur eine Kunstfaserdecke, wird das schon ziemlich uncool. Da lag ich dann nachts, zitternd vor Kälte aufgewacht und hab keine Möglichkeit gefunden wieder warm zu werden.
Gott sei Dank kann man ja den Mund aufmachen und nach weiteren Decken fragen. Ich hab mir direkt 2 weitere geben lassen und mit insgesamt 3 Decken ging es dann besser.
Seit ich in Khulna bin ist es etwas wärmer. Die kalten Tage und vor allem Nächte haben mir aber eine dicke Erkältung beschert die aber jetzt abklingt und ich mich wieder etwas fitter fühle.

Wir haben nach Kushtia dann in Satkhira die Orgsnisation SSF/B besucht. Diese hat neben Kleinkreditprojekten und mobilen Gesundheitsservices auch eine Abendschule. Hier haben die Kinder jeden Alters abends die Möglichkeit Unterricht zu besuchen. Die Klassen 1 bis 8 werden angeboten. Auch wenn es in Bangladesch offiziell eine Schulpflicht gibt, geht nicht jedes Kind zur Schule, bzw. Starten sie die Schule nicht alle im gleichen Alter. Dies hat verschiedene Gründe. Zum einen ist das Schulnetz nicht besonders dicht ausgebaut, die Schulen sind nicht für jedes Kind fußläufig erreichbar. Und Geld für den Bus hat auch nicht jede Familie. Die Abendkurse sind aber auch aus einem ganz anderen Grund für die Kinder sehr wertvoll. Einer, den man kaum glauben mag. Auch wenn die Anzahl der Kinder abnimmt, es gibt sie immer noch, die Kinder die schon im Alter von 6 Jahren arbeiten gehen. Und das nicht zu knapp. Bis zu 9 Stunden am Tag. Die Kinder räumen in Teestuben die leeren Gläser ab, ein Mädchen berichtet, dass sie als Hausmädchen arbeitet.
Die Kinder reagieren beschämt und schüchtern auf die Frage wieviele von ihnen denn einer Arbeit nachgehen. Die Handmeldungen erfolgen sehr zögerlich und wir sind uns sicher, dass es mehr sind als die Hände, die wir sehen.

Nach der Arbeit gehen die Kinder dann abends in die Schule.
Nach Abschluss der 8ten Klasse können die Kinder an einer Art Kurzausbildung teilnehmen. U.A. werden Nähkurse, Kurse zum Schweißen und Elektrikkurse angeboten. Je nach Kurs, sind die Teilnehmer dann nach 6-12 Monaten dazu in der Lage einen festen Job zu suchen, viele Träumen aber auch von einem eigenen Laden, manche Mädchen möchten von zuhause aus nähen.
Es gibt wenige Sachen, von denen ich behaupte, dass sie in jedem Land gleich sind. Aber soweit meine Erfahrung reicht, lässt sich eines auf jedes Land anwenden. Wir kennen es alle: Ohne Moos nix los!
So eben auch hier. Von denen, die auf die gerade beschriebene Art und Weise zu einer kleinen Ausbildung kommen, hat keiner das Kapital für Schweißgeräte für seine Werkstatt, und keiner das Geld für eine eigene Nähmaschine. Und dafür gibt es dann die Kleinkreditprogramme.
Die Menschen ohne Sicherheit haben keine Chance einen regulären Kredit bei einer Bank zu bekommen. Daher bekommen sie die kleinen Kredite der gemeinnützigen Organisationen. Es gibt dazu regelmäßige Trainings in den kleinen Dörfern, in der sich die Kreditnehmer mit einem Finanzcoach zusammen zusammen setzen und ihre Buchhaltungen besprechen. Einnahmen und Ausgaben sowie die Kredittilgungen werden in kleinen Büchern festgehalten.
Das dauert manchmal Jahre. Aber es ist die einzige Chance, die die Menschen haben sich aus eigener Kraft nachhaltig aus dem absoluten Elend zu befreien.

So, das war jetzt viel Theorie. Danke an alle die jetzt noch da sind und weiter lesen. Um euch das ganze mal zu veranschaulichen: eine Nähmaschine (Chinaimport, mit Pedal) kostet ca.60 Euro. Die Frauen brauchen ein bisschen Garn, ein paar Stoffe für den Anfang und alles zusammen gibt dann eine Kredithöhe von ca. 120 Euro.
Wenn die Kredite getilgt sind können mit dem zurückgezahlten Geld neue Kredite vergeben werden. So hat dann der nächste auch eine Chance.

Der Besuch in der Abendschule war in vielerlei Hinsicht sehr bewegend. Die Kinder haben sich sehr über unseren Besuch gefreut. Zwei Mädchen singen ein Lied für uns. Aber gerade in den ersten beiden Klassen fällt mir eines auf. Es ist wirklich kalt am Abend, ich friere. Und die Kinder tragen alte Flipflops und Schuluniform mit kurzen Armen. Und sie sitzen da für Stunden und müssen am auskühlen sein. Nur 2 Kinder tragen eine Jacke. Gedanklich suche ich bei Google schon nach einem Geschäft in der Nähe, das Socken und Jacken verkauft.
Ich frage nach dem Grund, warum die Kinder keine Jacken tragen. Ich möchte wissen ob es daran liegt, dass sie einfach keine haben, sie vielleicht vergessen haben weil es über Tag wärmer war oder ob es andere Gründe gibt. Nachdem meine Frage übersetzt wurde antwortet ein kleiner Junge. Er erzählt uns, dass er eine Jacke dabei habe, aber der Meinung ist, das sie für unseren Besuch nicht angemessen sei, da sie alt und dreckig und kaputt ist. Ich muss einmal tief durchatmen und in mich gehen. Jeder der mich kennt weiß, dass ich normalerweise nicht auf den Mund gefallen bin, und das ich nicht weiß was ich sagen soll kommt in meiner Tagesordnung auch eher selten vor. Aber hier habe ich nun doch schon einige Situationen gehabt, in denen es mehrere Anläufe gebraucht hat bis ein Ton aus meinem Mund kam.
Ich bitte die Kinder, alle die eine Jacke dabei haben, diese bitte anzuziehen. Es ist zu kalt. Und wir erklären ihnen, dass wir uns sehr freuen sie kennen zu lernen und wir wegen ihnen da sind. Und wir uns wünschen, dass sie gesund bleiben und das es uns ganz egal ist wie ihre Jacken aussehen.
Eine kurze Unruhe breitet sich aus während die Kinder ihre Jacken nehmen und anziehen.

Nach 2 Nächten in Satkhira geht es dann weiter nach Khulna.
Unsere Partnerorganisation hier heißt ADAMS. Hier sind wir am 16. Januar angekommen. Wir wurden mit Blumen begrüßt, haben gemeinsam eine bengalische, eine deutsche und eine Friedensflagge gehisst und bekamen unsere Zimmer im Gästehaus gezeigt.
ADAMS unterhält ähnliche Projekte wie die, die ich zuvor aus Satkhira beschrieben habe. Hier gibt es auch ein Trainingszentrum, in der die Schulabsolventen über 6-12 Monate ausgebildet werden, Microkreditgruppen und Vorschulen in den Slums.
Am nächsten Tag geht es dann auch los, ich entnehme der Agenda, dass wir die Slums besuchen.
Meine Aufregung steigt, denn bis dato kenne ich Slums nur von Bildern. Wir fahren los, begleitet von vielen Mitarbeitern der Partnerorganisation und begleitetvon einem Polizeiauto mit bewaffneten Polizisten. Irritiert mich ein bisschen weil ich mir die Frage stelle ob ich was gefährliches mache oder was mich wohl erwartet, das so ein Aufgebot erfordert.
Der Minivan parkt, wir steigen aus. Und da stehe ich, mitten auf den Bahnschienen die durch die Slums verlaufen. 

Ok, ich sehe Wellblechhütten, Menschen sitzen auf dem Boden, Kühe, Hunde und Hühner laufen umher. Wir sind hier um eine Microkreditgruppe zu besuchen, die Frauen erwarten uns bereits. Sie sitzen auf dem Boden und ihnen gegenüber sind Stühle aufgestellt. Mittlerweile kenne ich das Prozedere, dass wir Platz nehmen und uns nacheinander vorstellen und unsere Worte dann übersetzt werden. Ich bin verlegen, freue mich auf die Begegnung aber mein Standardsatz „ich freue mich hier zu sein“ ist ja nun doch eher unangemessen. Insgesamt bin ich mir nicht sicher wie ich mich fühle. Irgendwie gut, trotz der Katastrophe um mich herum. Vor mir sitzen die Frauen, im Hintergrund die Bahnschienen. Ich weiß nicht so recht wohin ich gucken soll und frage mich warum ich mich einfach nicht so richtig betroffen fühle.
Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich mit der Situation vielleicht ein kleines bisschen, aber wirklich nur ein klitzekleines bisschen überfordert war. Ich hab die Slums zum ersten mal gesehen, aber ich hatte keine Zeit den ersten Eindruck wirklich aufzunehmen und auch nur mal kurz darüber nachzudenken…weil ich direkt dahin gebracht wurde, wo ich erwartet wurde.
Da saß ich nun, mit meinem künstlichen Lächeln, gebadet in Unsicherheit und nicht in der Lage auch nur einem Menschen in die Augen zu schauen. Das war zu dem Zeitpunkt glaube ich sowas wie ne unterbewusste Selbstschutzmaßnahme. Einfach erstmal alles mit sicherem emotionalen Abstand betrachten….aaaah, nicht so schlimm…alle Gefühle abwehren. Dann kann ja nichts mehr schief gehen.

Wolfgang beginnt damit ein paar Worte an die Menschen zu richten. Danach macht bestimmt Stefan weiter. Über meinem Kopf hängt ein Käfig mit einem Vogel. Scheinbar hängt dieser ungünstig für irgendeine Fotoperspektive also wird er kurzerhand abgehangen. Vor mir sitzt ein Kind. Der lila Pullover ist verblasst und vom Dreck in einen Grauschleier getaucht. Das Mädchen lächelt verlegen und ich komme nicht mehr drum herum ihr in die Augen zu sehen. Ich greife nach meiner Tasche, um das Taschentuch komme ich nun doch nicht mehr drumherum. Meine Güte, das war so nicht geplant.
Wolfgang hat seine Ansprache beendet, Stefan will weiter machen aber ich mische mich kurz dazwischen weil ich genau jetzt etwas zu sagen habe. Auch wenn es eben mal wieder unter Tränen sein muss. Aber es kann nicht mehr warten, mein Selbstschutzdamm ist eingebrochen und ich muss es jetzt einfach zulassen. Ich sage, das die Situation für mich neu ist, das es mir leid tut, dass ich weine…wie sehr ich mich freue, dass die Menschen sich Zeit nehmen um uns ihre Geschichte zu erzählen und ich sehr stolz bin, dass ich ihre Bekanntschaft machen darf.
Und dann putze ich mir die Nase und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Und dann geht es wieder, ich kann wieder echt lächeln und den Menschen in die Augen sehen.

Stefan redet nun auch, aber ich höre nicht zu. Bin gerade mit mir selbst beschäftigt, und dem kleinen Welpen der sich von hinten einen Weg in die erste Reihe verschafft, unter meinem Stuhl entlang. Ich will ihn mal streicheln, der ist ja ganz süß. Mit den Worten „too dirty“ wird mir der Hund aber auch gleich wieder weg genommen. Genau wie das Huhn, das danach mal neugierig vorbeistolziert.
Vor uns steht eine Schale mit einfachem Brot. Nicht so europäisches sondern so bengalisches. Eine Frau hat sich mit Hilfe eines Mikrokredits einen Verkaufsstand mit dem Brot erschaffen. Von einem meiner Mitreisenden werde ich gefragt ob ich das essen würde. Ja klar, ich glaube er aber nicht. Ist aber eh nur zur Veranschaulichung gedacht.
Ein paar Minuten später bekommen wir es dann aber angeboten. Es wird aber ein frischeres serviert, das ganz oben in einem dreckigen großen Plastiksack zum Verkauf bereit liegt. Ich breche mir ein Stück ab. Es schmeckt nach nichts. Aber was ne Situation. Ich sitz da wieder wie Krösus vor den Menschen von denen ich nicht weiß, ob sie genug zu essen haben und bin dann auch noch diejenige, die was geschenkt bekommt. Ich breche das Brot in viele Stücke und verteile es unter den Kindern. Ich kann gerade nicht viel essen.
Es geht dann wieder alles relativ schnell, ich hab ein 4 Monate altes Baby auf dem Arm, Frauen jeden Alters um mich herum und dann wird gelacht und Freude geteilt. Ein bunter Punkt, der Mitten im Grau für einen Moment aufleuchtet.

Wir gehen nun durch die engen Gassen und eine Frau zeigt uns, dass sie und ihr Mann kochen um das Essen dann zu verkaufen. Ich trete ein in den Miniraum und sehe zwei riesige Töpfe auf dem Feuer. Ich gucke mal rein. Ich muss fast würgen. In dem Topf schwimmt alles, was vorher mal in einer Kuh drinnen war. Einen Kiefer kann ich identifizieren. Die restlichen Details brauche ich nicht. Ob das jetzt kochendes Gehirn oder Darm oder Organe sind…uninteressant. Ein Glück wird mir nichts angeboten. Rundherum in der Hütte hängen seltsame Lappen. Was das ist möchte ich wissen. Das ist die Kuhhaut, die man jrgendwann auch noch kochen kann. Ich werde mich ab jetzt nie wieder über irgendein Essen beschweren.

Ein Mächen lädt mich ein ihr Zuhause zu besuchen, was mich sehr freut. Die Wände sind grün, von der Feuchtigkeit und dem Dreck aber fleckig. Das Bett nimmt dreiviertel des Hauses ein. Sie besitzt eine Nähmaschine, die sich mit Hilfe eines Mikrokredits kaufen konnte. Sie nimmt Aufträge von Nachbarn an und bestreitet so ihren winzigen Lebensunterhalt. Als ich mich verabschiede nimmt sie mich ganz fest in den Arm. Bis heute ist sie die Einzige die das gemacht hat, vielleicht aber auch die Einzige die sich getraut hat? Sie sagt, dass sie sich sehr freut, dass ich sie besucht habe. Und ich sage ihr, dass ich mich freue, dass sie mir ihr Zuhause gezeigt hat. Sie hat mir alles gezeigt, was sie hat und mich in ihre Privatsphäre eingeladen. Dabei ist es ja unerheblich ob sie in einem Schloss, einer Villa oder eben einer Slumhütte wohnt. Ich hab jedenfalls noch nie einen Touri in Köln eingeladen mein Zuhause zu sehen.

Alles Liebe ❤
Julia


7 Gedanken zu “Satkhira und Khulna

  1. Hallo Julia,

    wenn ich Deine Berichte hier lese, kommt mir ab und zu doch ewtas hoch. Ich bewundere Dich für das, was Du da machst. Und dann sehe ich, wie gut es den meisten in Europa 8auch mir!) doch geht.
    Damit die Damen und Herren Politiker mal sehen, wie es in der realen Welt tatsächlich abgeht, sollte man ein weltweites Gesetz verabschieden, indem jeder Politiker verpflichtet wird, 1 Jahr Sozialdienst in einer Organisation wie der deinigen zu absolvieren. Vielleicht lernen sie dann, mal wieder wie Menschen zu fühlen, dankbar zu sein und verantwortungsbewusst zu handeln.
    Auch hier in Europa und gerade auch auf dieser kleinen Insel, auf der ich lebe, gibt es viel soziale und gesellschaftliche Armut. Aber was macht die Gesellschaft und/oder die gewählten Volksvertreter? Sie schauen weg. Deswegen ist es wichtig, dass so ein kleine, junge Frau (nicht böse gemeint!) einem mit solchen Posts mal die Augen öffnet.

    Sei gegrüßt
    Rainer

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  2. Du beschreibst das so anschaulich das man meint man wäre selbst da. Die Bilder sprechen für sich, da sind in deinen bisherigen Einträgen sehr eindrückliche Portraits dabei. Du hast ein gutes Gespür für sowas. Hoffe du kannst dort viel bewirken! Wünsche viel Kraft für die kommenden Tage.

    Liebe Grüße

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  3. Was für Erlebnisse! Auf welche Art auch immer, traurig/fröhlich/unerwartet und das könnte man noch beliebig ergänzen. Den Mut zu haben, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen, Hut ab. Ich freue mich immer wenn es einen neuen, spannenden und richtig gut geschriebenen Bericht von dir gibt. Ich halte die Daumen, dass alles für dich so positiv weitergeht, du Gutes tun kannst und ganz viel mitnehmen aber auch geben kannst. Freue mich auf weitere Berichte. Pass auf dich auf. GLG aus dem deutschen Norden

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  4. HALLO Julia. Freue mich auf deine Berichte.War auch vor fast 20 Jahren mit der Lichtbrücke in Bangladeyh. Habe alles so erlebt und so empfunden wie du. Wir unterstützen die Menschen in Khulna seit 25 Jahren .Seitdem schön 1,2 Mio überweisen können für Slumschulen Kredite und Krankenstationen. Haben viele lieben Spender. Es macht uns sehr viel Freude. Ich sage immer Herzensfreude.

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